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«Die Abnehmspritze ist kein Wundermittel»

22. Februar 2024

Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung ist übergewichtig – zwölf Prozent sind sogar adipös, also fettleibig. Die sogenannte Abnehmspritze soll Abhilfe schaffen. Kann sie das?

  • Autor / Autorin Dr. med. Annic Baumgartner
  • Lesedauer ca. 5 Minuten
  • Themen Ernährung
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Ja, sagt Dr. med. Annic Baumgartner, Leitende Ärztin für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus am KSA Kantonsspital Aarau. Aber sie schafft es nicht allein.

Als die Patientin vor zwei Jahren erstmals ins KSA kam, wog sie 105 Kilogramm und wies einen BMI von 34.5kg/m2 auf. «Sie war klar adipös», erinnert sich Dr. Baumgartner. Im Vorfeld war eine Vorstufe von Diabetes festgestellt worden. «Das hat die Patientin alarmiert. Sie wollte unbedingt abnehmen.»

Weltweit leiden immer mehr Menschen an Übergewicht. Ein BMI über 25kg/m2 kann zu zahllosen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Fettleber und aber auch zum frühzeitigen Tod führen durch Herzkreislauferkrankungen. Auch Probleme der Atmung und der Gelenke gehen häufig auf ein zu hohes Körpergewicht zurück. Männer sind häufiger betroffen als Frauen, Ältere häufiger als Jüngere.  

Ohne Fleiss kein Preis 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Übergewicht zu behandeln. Neben der konservativen und der chirurgischen Therapie via Magenbypass oder Schlauchmagen kommt bei leichter bis mittelschwerer Adipositas häufig die Abnehmspritze zum Einsatz. Dahinter verbergen sich das Medikament Saxenda und sein Nachfolger Wegovy. Über maximal drei Jahre wird das Präparat täglich gespritzt. «Die Wirkung ist sehr gut», weiss die Expertin. «Aber die Abnehmspritze ist kein Wundermittel.» Sie diene lediglich dazu, die Gewichtsreduktion anzukurbeln. «Wer sich für diesen Weg entscheidet, muss wissen: Mitarbeit ist unabdingbar. Das ganze Leben wird auf den Kopf gestellt.» Sie meint damit die komplette Veränderung des Lebensstils: weniger essen, gesünder essen, bewusster essen. Und sich mehr bewegen.

Ohne den Anstoss des Medikamentes hatte die Patientin aber bisher nur Fehlschläge erlitten, so dass Saxenda ihr hier die nötige Unterstützung gegeben hat.

Übergewicht hat oft psychische Ursachen 

Weil die Ursachen von Übergewicht komplex sind, arbeiten im KSA verschiedene Expertinnen und Experten Hand in Hand. Vor anderthalb Jahren wurde das KEEA gegründet, das Kompetenzzentrum Ernährung, Essstörung und Adipositas. Neben Fachpersonen in den Bereichen Ernährungsberatung, Endokrinologie und Adipositas-Chirurgie arbeiten hier auch Psychiaterinnen und Psychologinnen. «Gerade bei adipösen Patientinnen und Patienten ist das Essverhalten oft emotional», erklärt Dr. Baumgartner. Dem kann auch die die Abnehmspritze zu einem gewissen Grad Rechnung tragen. Sie wirkt nicht nur auf Magen und Darm, sondern auch auf das Belohnungszentrum im Hirn: Essen löst weniger Befriedigung aus und erleichtert die Umstellung des Lebensstils sowie die Erarbeitung anderer Strategien mit den Gefühlen umzugehen, die ein ungesundes Essverhalten auslösen. Denn ohne eine dauerhafte Umstellung der Lebensgewohnwohnheiten bringt die Abnehmspritze keinen nachhaltigen Erfolg. 

 

Medikament, kein Lifestyle-Produkt

Der Social-Media-Hype um die Abnehmspritze ist für die Ärztin ein zweischneidiges Schwert. «Es handelt sich um ein Medikament und nicht um ein Lifestyleprodukt.» Es stehen momentan 2 Produkte mit dieser Zulassung zur Verfügung: Saxenda und Wegovy. Beides bedarf einer spezialärztlichen Verordnung. Das Abdriften in den kosmetischen Bereich habe nicht nur zu Lieferengpässen von Saxenda geführt, sondern auch dazu, dass auf das Diabetes-Medikament Ozempic aus der gleichen Wirkstoffklasse ausgewichen wurde und nun ebenfalls fast vergriffen sei. «Es hat ein regelrechter Run auf Ozempic stattgefunden, das ähnlich wirkt wie Saxenda, aber nur einmal wöchentlich gespritzt werden muss.» Die Folge: Diabetes-Patienten sind medikamentös unterversorgt. «Wir am KSA verschreiben daher kein Ozempic für übergewichtige Patienten – und schon gar nicht als Lifestyle-Medikament.» Aktuell ist die Verfügbarkeit von Saxenda (und Ozempic) eingeschränkt. Für den Nachfolger Wegovy besteht noch keine Kostendeckung aus der Grundversicherung – deshalb müssen Patientinnen und Patienten vorerst selbst für die Kosten aufkommen.

Kürzlich ist die Patientin, die vor zwei Jahren ins KSA kam und seither die Abnehmspritze nimmt, zu Dr. Baumgartner zur Kontrolle gekommen. Sie habe gestrahlt und erzählt, dass sie nicht nur ihre Ernährung umgestellt habe und regelmässig Sport treibe, sondern sich auch zur Ernährungsberaterin habe ausbilden lassen, um anderen Betroffenen zu helfen. Als sie auf die Waage steigt, zeigt sie 66 Kilogramm an. Ihr BMI ist auf 21kg/m2 gesunken – Normalgewicht. «Das ist sicherlich nicht ein durchschnittlicher Erfolg, sondern der Lohn eines zusätzlich sehr grossen persönlichen Aufwandes«, kommentiert die Expertin. «Ohne den Anstoss des Medikamentes hatte die Patientin aber bisher nur Fehlschläge erlitten, so dass Saxenda ihr hier die nötige Unterstützung gegeben hat«. Die Dosierung von Saxenda wurde in der Zwischenzeit aufgrund des Normalgewichtes reduziert und ausgeschlichen.  

Das Kompetenzzentrum Ernährung, Essstörung und Adipositas (KEEA) der KSA Gruppe  

Das KEEA ist ein umfassendes Kompetenzzentrum für alle gesundheitlichen Probleme, die mit der Ernährung zusammenhängen. Wir beraten Personen mit Übergewicht, von der Ernährungsberatung bis hin zur Adipositas-Chirurgie, und begleiten Betroffene mit Essstörungen wie Magersucht und Bulimie. Im Bereich der Ernährungsmedizin gehen wir auf Fehl- oder Mangelernährung ein. Dank der engen Zusammenarbeit von unterschiedlichen Fachbereichen, können wir die Therapie auf die individuellen Bedürfnisse jeder Person abstimmen. 

Das standortübergreifende KEEA vereint die exzellenten medizinischen Kompetenzen des Kantonsspitals Aarau und des Spitals Zofingen unter einem Dach. Wenden Sie sich für eine Überweisung an Ihren Hausarzt oder nehmen Sie direkt mit uns Kontakt auf. 

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