Schmerz hat ein Geschlecht
8. Dezember 2025
Frauen erleben Schmerzen häufiger, intensiver und oft über längere Zeit als Männer. Eine neue Übersichtsarbeit zeigt, wie stark weibliche Hormone, Lebensphasen und psychosoziale Faktoren die Schmerzverarbeitung beeinflussen – und warum ein Umdenken in der Medizin nötig ist.
- Fachperson Prof. Dr. med. Lukas Andereggen
- Lesedauer ca. 7 Minuten
Viele Frauen kennen es: Schmerzen während der Menstruation, Migräneanfälle oder diffuse Beschwerden in den Wechseljahren. Oft werden diese Symptome als «normal» oder «zyklusbedingt» hingenommen – als etwas, das man eben aushalten muss. Das hat Folgen: Erkrankungen wie Endometriose werden oft erst nach Jahren erkannt, wirksame Therapien verzögern sich, und viele Frauen fühlen sich mit ihren Schmerzen alleingelassen.
Frauen haben häufiger Schmerzen
Eine kürzlich erschienene Übersichtsarbeit, die über 100 wissenschaftliche Studien berücksichtigt, zeigt: Frauen leiden statistisch häufiger unter Schmerzen als Männer. So berichten laut internationalen Erhebungen rund 22 Prozent der Frauen von chronischen Schmerzen – etwas mehr als Männer. Besonders ausgeprägt ist der Unterschied bei bestimmten Erkrankungen: Migräne etwa tritt bei Frauen bis zu dreimal häufiger auf als bei Männern. Zudem sind Frauen deutlich öfter von besonders schweren, den Alltag einschränkenden chronischen Schmerzen betroffen («high-impact pain»).
Obwohl Frauen statistisch häufiger und intensiver Schmerzen erleben, basiert ein grosser Teil der heutigen Schmerzmedizin noch immer auf Daten von Männern. Jahrzehntelang waren Frauen in klinischen Studien unterrepräsentiert – deshalb orientieren sich Dosierungen, Standards und Leitlinien bis heute an männlichen Durchschnittswerten. Das hat direkte Auswirkungen: Frauen sprechen auf bestimmte Schmerzmittel sensibler an, erleben teilweise stärkere Nebenwirkungen oder benötigen andere Dosierungen. Dennoch fehlen bis heute klare geschlechterspezifische Empfehlungen.
«Wir wissen, dass Schmerzmittel bei Frauen teilweise anders wirken», sagt Prof. Dr. med. Lukas Andereggen, Leitender Arzt Neurochirurgie am Kantonsspital Aarau und Mit-Autor der Übersichtsarbeit. «Trotzdem gibt es in vielen Leitlinien keinen einzigen Hinweis darauf. Das zeigt, wie gross die Lücke zwischen Forschung und Praxis ist.»
Wie Hormone den Schmerz beeinflussen – und warum er sich im Laufe des Lebens verändert
Weshalb erleben Frauen Schmerzen oft anders als Männer? Ein zentraler Grund liegt in den weiblichen Hormonen. Östrogen und Progesteron wirken direkt auf das Nervensystem und beeinflussen, wie stark Schmerzen empfunden werden. Das zeigt sich beispielsweise im weiblichen Zyklus: In der ersten Zyklushälfte, wenn der Östrogenspiegel steigt, liegt die Schmerzschwelle häufig höher. Während der Menstruation hingegen sinkt sie deutlich – viele Frauen erleben Schmerzen dann intensiver. Weil diese Effekte von Frau zu Frau unterschiedlich ausfallen, wird umso deutlicher, wie wichtig personalisierte Ansätze in der Schmerztherapie wären.
Hormonelle Veränderungen begleiten Frauen ein Leben lang – nicht nur während des monatlichen Zyklus. Auch in der Pubertät, während einer Schwangerschaft, in der Stillzeit und in den Wechseljahren stellen sich die Hormone immer wieder neu ein und beeinflussen auch die Schmerzempfindung. Besonders deutlich wird dies in den Wechseljahren, wenn der Östrogenspiegel stark abfällt. «Östrogen hat bei vielen Frauen einen schützenden Effekt auf die Schmerzverarbeitung», erklärt Lukas Andereggen. «In der Menopause fällt dieser Schutz weg – deshalb nehmen chronische Schmerzen in dieser Lebensphase häufig zu.» Die Autorinnen und Autoren der Studie plädieren daher dafür, Schmerzen lebensphasenorientiert zu betrachten, das heisst auch die Behandlung stärker an der jeweiligen hormonellen Situation und Lebensphase der Frau auszurichten.
3 Fragen an Prof. Dr. med. Lukas Andereggen
Was hat Sie persönlich bei der Arbeit am meisten überrascht?
Mich hat überrascht, wie wenig das Thema bisher im Gesundheitssystem verankert ist. Obwohl die Studienlage stetig wächst, fehlen nach wie vor klare Leitlinien. Umso wichtiger ist es, Schmerztherapie künftig individueller und geschlechterspezifischer zu gestalten.
Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre?
Ich wünsche mir, dass geschlechterspezifische Fragen künftig noch stärker in den klinischen Alltag einfliessen. Wenn wir alle in unseren Disziplinen gelegentlich prüfen, «Spielt das Geschlecht hier eine Rolle?», können wir gemeinsam viel erreichen.
Was kann das Kantonsspital Aarau dazu beitragen?
Wir können das Thema aktiv in der Lehre und Weiterbildung sichtbar machen, den Austausch zwischen den Disziplinen fördern und als Vorbild für eine faire und moderne Schmerzmedizin dienen.
Psyche, Stress und Schmerz – ein eng verzahntes System
Schmerzempfindung hängt jedoch nicht allein vom Zyklus und der Lebensphase ab. Auch psychische Faktoren tragen wesentlich zur Schmerzverarbeitung bei – und stehen selbst zum Teil unter hormonellem Einfluss, da Schwankungen von Östrogen und Progesteron Stimmung, Stressreaktionen und die Anfälligkeit für Angst- oder Depressionssymptome mitbeeinflussen können.
Frauen leiden häufiger an Angststörungen oder Depressionen. Beides kann Schmerzen verstärken oder dazu führen, dass sie chronisch werden. Stresshormone und innere Anspannung beeinflussen das Nervensystem, weswegen das Gehirn Schmerzreize schneller und intensiver wahrnimmt. Wer also stark belastet ist oder viel grübelt, hat deshalb oft eine niedrigere Schmerzschwelle – der Schmerz fühlt sich stärker und schwerer kontrollierbar an.
Ein Umdenken in der Praxis
Für die Forschenden ist klar: Die Schmerztherapie muss künftig individueller an die Frauen angepasst werden. Dazu braucht es mehr Bewusstsein in allen Fachgebieten, besseres Wissen über geschlechterspezifische Unterschiede und langfristig auch neue Leitlinien. Am Kantonsspital Aarau wird dieser Wandel bereits angestossen: In interdisziplinären Besprechungen, internen Weiterbildungen und Fachvorträgen wird das Thema aktiv aufgegriffen, Ärztinnen, Ärzte und Pflegende werden sensibilisiert, und Erkenntnisse aus der Forschung fliessen Schritt für Schritt in den klinischen Alltag ein. In der Neurochirurgie werden in der Neuro Pain Unit (NPU) regelmässig Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen betreut. «Daher ist es uns ein besonderes Anliegen, geschlechterspezifische Unterschiede noch stärker in Diagnostik und Therapie einzubeziehen», sagt Lukas Andereggen.
Ziel ist es, Frauen mit Schmerzen besser zu verstehen – und ihnen eine Therapie zu bieten, die ihrer Lebensrealität gerecht wird. «Das Wichtigste ist, dass wir beginnen, anders zu denken», so Lukas Andereggen. «Wenn das Bewusstsein da ist, verändert sich auch die Praxis.»
Dr. med. Andrea Stieger, Assistenzärztin Anästhesiologie, Kantonsspital St. Gallen
med. pract. Auste Asadauskas, Assistenzärztin Neurologie, Inselspital Bern
Prof. Dr. med. Markus Lüdi, Klinikdirektor Anästhesiologie, Kantonsspital St. Gallen
Prof. Dr. med. Lukas Andereggen, Leitender Arzt Neurochirurgie, Kantonsspital Aarau
Intim, aber nicht tabu
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